Was tun, wenn Gott strauchelt...


Rezension des Schultheaters des Gymnasiums Weingarten:

 

Theater AG des Gymnasiums Weingarten führt Woody Allens „Gott“ auf.

 

Auf der Bühne herrscht wildes Durcheinander. An Kleiderstangen hängen Kostüme, von der Decke baumeln Masken aller Art, dazwischen Requisiten, Requisiten, Requisiten. Damit sind alle Ingredienzen für ein klassisches Theaterstück gegeben.

Bevor aber auch nur ein Wort gesprochen wird, bevor auch nur ein Darsteller die Bühne betritt, erahnt man schon: der Schein trügt. Was hier zu sehen ist, sind nur die Bausteine für ein großes Spiel.

Den Anfang macht eine anonyme Aufforderung aus dem Publikum und bereits mit diesem ersten Bruch der Erwartungen beginnt das Theater. Die Gestalten, die (in ebenfalls klassischem Rot-Weiß-Schwarz) auf die Bühne stürmen, werden vom Schriftsteller Hepatitis (in seinem verzweifelten Ringen nach Unsterblichkeit von Johannes Zwicker treffend zwischen Sensibilität und Überheblichkeit erfasst) als die Objekte zweckentfremdet, die sie auf der Bühne nun einmal sind. „Nichts“ ist das erste Wort und gleichzeitig Konklusion, das die Spannung eines Stückes eröffnet, das von Beginn an auf der Suche nach seinem eigenen Schluss (und Sinn) ist.

Neben einigen grundlegenden Überlegungen, ob alles einen Anfang und ein Ende haben muss und ob der Kreis als Symbol der Unendlichkeit einen Ausweg aus der Misere bietet, zeigt sich, im Streben des Schriftstellers, dass alles ein Ziel hat (sicher nicht grundlos, fühlt man sich im griechischen Kontext an Aristoteles Lehre vom télos erinnert). Unterstützung bekommt Hepatitis von Diabetes, einer Schauspielerin (beeindruckend souverän verkörpert von Elena Szagun, die die Herausforderung, in jeder Situation im positiven Sinne zu überdramatisieren, absolut erfolgreich meistert), die jedoch ihre ganz eigenen Ziele hat. Die zwei verfallen bald in selbstreferentielle Diskussionen über die Verhältnismäßigkeit von Realität und Fiktion. Das Stück geht sogar so weit, die Figuren sich ihrer Figürlichkeit bewusst werden zu sein (Deadpool lässt grüßen). Diese Spekulationen weiten sich schnell (unter der Anrufung von Kant und Descartes Zitaten) zu existentialistischen Fragen nach der Erkennbarkeit von Wirklichkeit im Allgemeinen aus. Und wenn wir sind schon über die Bedingungen von Realität sprechen: Wieso nicht die Naturgesetze brechen, um an einen Schluss zu gelangen? Oder den Autor selbst (in Gestalt von Rana Duman unter einer 2D-Woody Allen-Maske) via Bügeleisentelefon befragen?

Spätestens jetzt sollte klar sein, dass „Gott“ bei seinen Zuschauern eine gewisse Grundbildung voraussetzt. Ein großes Wagnis für eine Schultheatergruppe, der es aber gelingt, neben den absichtlich komplex inszenierten Fragen auch für Unterhaltung und Dramatik zu sorgen.

Bei so viel Metaebene ist nur logisch, dass für ein solches Stück keine vierte Wand existiert, ja nicht existieren kann. Immer wieder wird mit dem Publikum interagiert, immer wieder melden sich Zuschauer zu Wort oder betreten die Bühne. So auch Doris Levine, die (mutig schamlos und in gefährlich hohen Haken gespielt von Irem Akkaya) Philosophie im Hauptfach studiert hat und eigentlich nur ihren Satz sucht. Dass diese Figur eine Karikatur ihrer selbst ist, wird nicht nur durch die pseudophilosophischste aller Fragen („Wenn ein Baum im Wald umfällt und niemand es mitbekommt,…“), sondern auch durch die Konterkarierung von offensivem Sex und einem #metoo auf den Hosen deutlich. Alles, wirklich alles wird gebrochen.

Aber was soll man machen in einem Stück, hinter dessen nie geschlossenem Vorhang man sich nicht vor Rassismus und latentem Sexismus scheut, der selbst die Philosophiestudentin zum blonden Dummchen degradiert. Stärkste Diskrepanz und Höhepunkt (hahaha!) findet diese Darbietung in der Gegenüberstellung der Frage nach der Abhängigkeit menschlicher Verantwortung von der Existenz eines Gottes und dem Allround-Liebesdienstangebot von Ms. Levine an das gesamte Publikum („Wollen Sie mit mir schlafen? Sie? Vielleicht Sie?“).

Während das Publikum sich nicht sicher ist, ob es sich schämen soll oder lachen darf, holt das Stück zum nächsten Schlag aus. Dieser betritt in Form der folgenden drei skurrilen Figuren die Bühne:

Da wäre als erstes Trichinosis (Deivid Ströble in völliger Euphorie und bayrischen Lederhosen), der    Hepatitis eine vermeintliche Lösung für sein Problem bietet: einen deus ex machina, bestehend aus zahlreichen Menschen, die mit gleichbleibendem Rhythmus Ordnung im Chaos schaffen und sowieso die Lösung auf alles sind

Als zweites Lorenzo Miller (Oliver Simon mit Goldkettchen, Mephistopheles-Gedächtnis-Augenbrauen und einem ganzen Haufen Charme), der mit seiner Behauptung, er habe das Publikum geschrieben und alle seien fiktiv, eben selbiges in tiefe Verwirrung stürzt.

Das Triptychon wird vervollständigt von Blanche DuBois (Erva Gargar, geballte Koketterie in Rot), die aus einem Stück von Tennessee Williams geflohen ist und in diesem Stück die Ruhe (und natürlich auch Gott) sucht.

Der erste Teil der Aufführung endet mit einem erneuten Einsatz der (Deus Ex) Machina, dieses Mal wirklich mit dem Ziel einen Gott, konkreter Zeus, auf die Bühne zu beschwören. Und während sich die Maschine kalibriert (übrigens für nur 26,50 die Stunde), macht sich auch ein Gott bereit, seiner Entgötterung entgegen durch wirbelnde Arme und stampfende Leiber zum Zentrum des Bühnenrandes zu stolpern. Und dort, in klassischer Pose und mit wildem Haar, erreicht das Stück seinen bisherigen dramatischen Höhepunkt. Sarah Riedinger (Darstellerin des Bursitis, der wiederum Darsteller des Zeus ist) gelingt es nicht nur, einen Gott mit einer Geste zu entthronen (Piu, Piu, Piu), nein, ihr gelingt es auch die gesamte Energie der Szene in einem göttlichen Fingerzeig zu bündeln und dem Herrn der Blitze einen Hauch Göttlichkeit zu bewahren. In kleiner Geste zeigt sich hier wirklich großes Talent.

Nach der Pause beginnt mit der Eröffnung durch Showmaster Lorenzo Miller (BHs fliegen auf die Bühne, wuhuuuuu) das Athener Dramatikfestival und damit auch endlich das Stück im Stück. Wer sich mit dem Theater auseinandersetzen will (und nichts anderes tut Allen hier), muss bei seinen Wurzeln beginnen und die liegen - bekanntermaßen - in Griechenland. Zur Verdeutlichung kommentiert ab jetzt nicht nur ein griechischer Chor das Geschehen, sondern auch das Schicksal himself taucht in Gestalt zweier sehr bunter Touristen (verhaltensoriginell dargestellt von Ajlin Asanoska und Leon Könner) auf.

Der Plot ist simpel: ein Sklave muss eine Botschaft überbringen. Doch diese glorreiche Aufgabe wird zur Zerreißprobe zwischen Freiheit und Sicherheit und teasert damit eine der zentralen Fragen es Stücks:

Wie viel Freiheit kann man – mit dem Risiko, dass es auch schiefgehen kann - wagen? Oder verweilt man lieber in Sicherheit? Dann aber auf Kosten der Freiheit. Der Überwachungsstaat grüßt bereits über die bayrische Grenze. An der Frage nach Freiheit hängt aber traditionell die weit größere Frage nach Verantwortung und diese ist nicht nur die Kernfrage des Stücks (ebenfalls durchexerziert am bystander-Effekt der chorischen Masse), sondern lässt den Protagonisten Diabetes in einer Elegie zurück, umschlossen von einem dionysisch zuckenden Chor, der als vielarmiges Ungeheuer final in Tod-des-Laokoon-Pose erfriert. Drama, baby!

Dass die Frage wichtiger ist, als die Antwort, wusste nicht nur schon Trinity (aus Matrix), sondern wird auch dem Boten zum Verhängnis. Den drohenden Tod vor Augen zittert sich der Sklave an drei Wachen vorbei (Vanessa Kreuzer, Carina Sonnenmoser und Rana Duman wie aus einem Monty Python Film entsprungen) bis zum König (dargestellt von Lea Moosmaier, die ihre Burger King Krone mit einer Mischung aus Stolz und Fanatismus trägt), der das Theater als einziger ernst nimmt.

 

Bevor es zum endgültigen Finale kommt, enthüllt der König die Frage aller Fragen: Gibt es einen Gott? Die Antwort der Botschaft lautet „Ja“. Soweit so einfach. Doch unerwarteterweise versetzt dies den König in Rage statt Erleichterung. Grund: Er muss jetzt das Gericht Gottes fürchten.

Der Tradition folgend soll der Bote nun seinen Tod finden, doch bevor sich dessen Schicksal erfüllt, schließt sich für das Publikum der Kreis zu einer bereits bekannten Szene. Denn das Einzige, was den Sklaven noch retten kann, ist: der deus ex machina.

Doch dieses Mal eskaliert die Maschine und der unglaublich unbeholfene Gott fällt ihr zum Opfer. Nicht einmal das schnelle Eingreifen eines Arztes (Lara Zauner, bewaffnet mit Glitzerdecke und Warnschild) kann den Tod Gottes noch verhindern. Nietzsche zu zitieren, ist an dieser Stelle obsolet. Gott ist tot - das Stück hat ihn getötet.

Und dies nun ist der Moment, in dem das Theaterstück in sich zusammenfällt. Der Schriftsteller fordert „Stegreifspiel“ und führt das Theater dadurch zum Ende hin an dessen Beginn zurück (man erinnere sich an das Symbol des Kreises), zurück zu Zeiten der Improvisation, lange bevor die aristotelischen Regeln das Chaos in Ordnung bannten. Es wird laut und wild, Chaos bricht aus, ein pinker Bär tanzt mit Donald-Trump-Maske über die Bühne, jemand singt das Schüttellied („und links schüttel, schüttel,...“), dann subsumiert Diabetes die Aussage des Stücks: „Nichts“ (Der Kreis ist geschlossen). Wo man auf den ersten Blick vielleicht orientierungslos sein mag, schält sich aus den zahlreichen Holzwegen doch eine eindeutige Botschaft heraus.

Wenn es keinen Gott mehr gibt, keine höhere Macht und wir alleine auf der Welt sind, dann sind wir - und nur wir - für unsere Taten verantwortlich. Die Message ist stark und unangenehm. Besonders für das Publikum. Man lacht, ohne die Konsequenz zu begreifen. Denn diese würde bedeuten, dass man das Theater verlässt und nicht weiterlebt wie bisher.

Unsere heutige Zeit schreit nach Verantwortung, schreit danach, sich nicht darauf zu verlassen, dass uns jemand errettet. Nein, sie fordert unser eigenverantwortliches Handeln. Und an dieser Stelle wird deutlich, warum das Stück u.a. eine gute Wahl der beiden Regisseure Peter Kliebhan und Cornelius Lehmann war. Es ist ein Stück der Jugend, weil es dazu auffordert, sein Leben einer höheren Macht aus der Hand zu nehmen und selbst das Richtige zu tun. Es ist ein Stück der Jugend, weil es mit allen klassischen Strukturen bricht (und das nicht nur im rebellischen Sinne, sondern auch im Zuge eines moralischen Voranschreitens) und den Zuschauern zeigt, dass es nötig und wichtig ist, in dem entstehenden Chaos Verantwortung zu übernehmen.

Was hier geboten wurde, war Theater auf sehr hohem Niveau, eine durchweg souveräne schauspielerische Leistung eines sehr großen und dennoch homogen agierenden Ensembles, das uns eines an diesem Abend gelehrt hat:

 

Freiheit lauert überall. Nutzen wir sie zum Guten!