Bleichrysanthemen (erschienen in "Kurzgeschichten MACHT")

 

 

 

Nach einer zu kurzen Nacht entdeckte Dallan am Silvestermorgen drei fremde Kinder in seiner Küche. Das Klirren der Tassen und Teller hatte ihn aus den Träumen gerissen. Zuerst dachte er, jemand wolle sein WMF Besteck stehlen, besann sich dann aber, dass es in seiner Wohnung doch deutlich Lukrativeres zu holen gab: Sein Couchtisch war aus geöltem, amerikanischen Kirschholz, seine Lampe eine echte Rundsam. Beides Einzelstücke. Dallan legte viel Wert auf ein qualitativ hochwertiges Interieur. Mal ganz abgesehen von den technischen Geräten.

 

Seit einigen Minuten lehnte er nun schon (erschöpft von der Arbeit der letzten Wochen) am Türrahmen und beobachtete die Küche. Zwei Kinder standen auf seinen Stühlen, zerrten an seinen Schubladen und verteilten deren Inhalt im Raum. Ein drittes hing mit dem Kopf über dem Napf seiner Katze. Das Besteck lag wie freigelegte Knochen auf dem Küchenboden verstreut, umgeben von unzähligen Geschirrscherben. Schränke waren aufgerissen worden, Vorratsgläser standen teilweise geöffnet, teilweise zerbrochen auf der Anrichte. Es herrschte Chaos. Die drei hatten einfach alles aus den Regalen gezogen. Alles, was Dallan gestern noch mühsam einsortiert hatte. Seine Casserole lag unter dem Küchentisch, seinen Schnellkochtopf hatte jemand gegen den Kühlschrank geschlagen und dort unschöne Schrammen hinterlassen. Als eines der Drei auf die Spüle stieg, um an die oberen Schränke zu gelangen, lösten sich einige Fliegen von der Edelstahlabzugshaube und ließen sich an der Zimmerdecke nieder. Die Kinder waren bis auf abgetragene Hosenreste nackt. Eines steckte gerade seine Hand bis übers Gelenk in eine Reispackung, die Dallan noch am Vortag entsorgen wollte, weil sie von Motten zerfressen war. Gierig stopfte es beide Fäuste in den Hals. Die Maden, die sich zwischen den Fingern herauswanden, krochen kurz über den aufgeblähten Bauch und fielen dann zu Boden. Dann ließ es vom Reis ab und stürzte sich auf ein Glas Silberzwiebeln. Währenddessen schlug das dritte eine Raviolidose gegen die Wand.

 

Noch hatten sie Dallan nicht bemerkt. Doch gerade als er etwas unternehmen wollte, brach mit einem Ruck eine Packung Makkaroni auf und klimperte über die Fliesen. Einige der Nudeln kamen erst vor seinen Füßen zum Stillstand. Auf einen Schlag hin hielten die Gestalten in ihrem Treiben inne und sahen zu ihm auf. Sie musterten ihn, musterten ihn wie hungrige Tiere. Eines der Kinder (das mit dem riesigen Kopf) schien das Interesse an ihm wieder zu verlieren und drehte sich weg, als wolle es mit der Dose Ravioli allein sein. Mit meiner Dose Ravioli, dachte Dallan. Gerade wollte er sich räuspern, da stürzten die beiden anderen auf ihn zu, griffen nach seinen Hosentaschen und klammerten sich an seine Beine. Dallan entwich ein Schrei. Er spürte ihre kleinen, dürren Finger, wie sie ihn absuchten. Wie langbeinige Spinnen. Dallan schrie noch immer, schrie die beiden Kreaturen an, sie sollten ihn doch loslassen, was sie hier zu suchen hätten, wie sie hereingekommen wären. Doch keines von ihnen antwortete. Stattdessen begannen sie an seinen Hosen zu zerren und Dallan konnte sich nur mit größter Mühe bis ins Bad retten. Schnell drückte er die Badezimmertür zu, wobei er eines der Kinder unsanft zur Seite schieben musste, und verschloss sie zweimal. Erst nach einigen Sekunden kehrte Stille ein, die jedoch bald wieder vom Klappern und Schlagen der Töpfe und Schranktüren zerrissen wurde. Dallan atmete auf.

 

Der Anblick der Kinder hatte ihn verstört und geärgert. Während er sich die Zähne putzte, dachte er an heute Abend. Sofie wollte zu Besuch kommen. Marek und Isi auch. Sie hatten sich gemeinsam verabredet, um Silvester zu feiern. Vor der Tür zerbrachen weitere Teller. Dallan spuckte aus, warf einen Blick in den Spiegel und strich ein wirres Haar aus der Stirn. Bevor er das Bad wieder verließ, spähte er noch einmal durch das Schlüsselloch. Die Kinder schienen keine Notiz von ihm zu nehmen. Doch dann schob sich plötzlich ein adriges Auge direkt vor sein Gesicht. Er erschrak. Weniger weil er überrascht war, mehr weil er sich ertappt fühlte. Mit dem festen Entschluss jetzt für Ruhe und Ordnung zu sorgen, drehte er den Schlüssel zweimal kräftig um und trat wieder in die Küche.

 

Die Situation hatte sich nicht verändert. Vergeblich versuchte Dallan seinen Platz im Türrahmen wieder einzunehmen, musste dann aber inmitten der chaotischen Horde stehen bleiben. Was zur Hölle ist hier los? Keine Antwort. Die Köpfe schwenkten kurz zu ihm, aber versanken gleich wieder im Suchen. Was hier los ist? Dallan wurde lauter. Wieder keine Antwort. Dallan schrie. Stille. Dann rannten die Kinder aus der Küche. Eines (das einen nässenden Ausschlag auf der Schulter hatte) streifte ihn am Bein. Angeekelt wich er zurück und wollte noch ein „Halt“ hinterherbrüllen, zögerte dann aber.

 

Sein Blick fiel auf den Einkaufzettel, der am zerbeulten Kühlschrank hing. Es war kurz vor zwölf. Die anderen wollten gegen 19 Uhr hier sein und die Einkaufsläden hatten heute, aufgrund des Feiertags, nur bis um 14 Uhr geöffnet. Er musste sich also beeilen. Als er einen Blick ins Wohnzimmer warf, sah er dass sich die drei Kinder auf seinen Möbeln breitgemacht hatten. Eines wälzte seinen Ödembauch auf Dallans Wildledersofa, eines lehnte an den Schrank und das dritte suchte Schatten unter dem Kirschholztischchen. Was für eine absurde Szenerie, dachte Dallan und wollte noch einmal zur Beschwerde ansetzen, als ihm die Zeit wieder einfiel. Es war wohl das besten, die Wohnzimmertüre einfach zu verschließen. Vielleicht hätte sich das Problem dann bei seiner Wiederkehr auch von selbst gelöst.[...]

 

Yperit

 

 

Als meine Mutter an der Schwindsucht starb, kam ich zu meinem Onkel und meiner Tante. Sie hatten einen Bauernhof in der Nähe von Brielen. Der Vater war noch im Krieg und niemand wusste, ob und wann er zurückkehren würde.

 

Es lebten viele Menschen auf dem Hof. Der Onkel, die Tante, ihre beiden Söhne und die Tochter, deren unsicheres Necken ich nicht verstand. Zudem gab es zwei Katzen, ein Pferd und jede Menge Hühner und Schweine. Der jüngere der beiden Brüder war ungefähr in meinem Alter und wir hatten bald einen Narren aneinander gefressen. Der Ältere machte sich mit seinen Freunden, einigen Burschen aus dem Dorf, einen Spaß daraus, uns zu ärgern. Zudem lebte dort noch die Großmutter, die den dampfenden Apfelkuchen, den die Tante am Sonntag buk, wie ein Geier vor uns Kindern bewachte, und die keine Gelegenheit ausließ, uns ordentlich zu schelten.

 

Der Hof war alt und abweisend. Schon lange wollte der Onkel die Stützen der Scheune erneuern, die Balken lagen noch immer vor dem Tor und verwitterten langsam. Aus dem Brunnen waren einige Steine herausgebrochen und das Dach hatte seit einem halben Jahr ein Loch, in das es hineinregnete. Vielerorts stand ineinander verschobenes Gefährt, ein Karren voller Getreidesäcke lehnte an einen Holzstapel, der für den kommenden Winter aufgeschichtet war. Es war ein wenig, als wäre der Hof verletzt und bislang nicht verarztet worden. Und dennoch war mir dieser Ort schnell zum Zuhause geworden. Die liebevolle Sorge der Tante, mein Bruder, mit dem ich Leid und Freud teilte, und sogar die Arbeit wollte ich nicht mehr vermissen. Besonders die Tiere hatte ich liebgewonnen. Vor allem den alten Karl, ein in die Jahre gekommenes Ross, das immer weniger zur Arbeit taugte. Und obwohl der Onkel jedes Jahr sagte, dass man ihn schlachten müsse, denn keiner würde auch nur noch einen Heller für ihn zahlen, tat er es nie. In allen anderen Angelegenheiten aber war er streng und konsequent. Wer zu spät oder ungewaschen am Tisch erschien, bekam nichts zu essen, wer nicht höflich grüßte, wurde bestraft und wer bösartig zu den Tieren war, spürte schon bald seine tellergroßen Pranken. Sorgfältig achteten wir Kinder darauf, ihn nicht zu verärgern. Ansonsten aber war der Hof uns ein riesiger Spielplatz. Am liebsten verbrachten der jüngere Sohn und ich unsere freie Zeit beim Versteckspiel. Und der Hof bot unzählige Verstecke. Die erste Wahl aber war der Misthaufen, der hinter der Scheune stand, einmal abgesehen von den Schimpftiraden der Tante, die sie beim Waschen von sich gab. Der Sohn und ich hatten ein Abkommen. Obwohl wir die Verstecke des anderen nach einiger Zeit kannten, verrieten wir es nie den Nachbarskindern. Er steckte meist im Schweinekoben, ich hinter oder im Notfall im Misthaufen. 

 

Jahre später, die Großmutter war längst gestorben, nahm uns der Onkel zum Schießen mit auf das Feld. Schon einige Zeit zog er sein Bein nach, so dass wir immer wieder Pause machen musste, um auf ihn zu warten. Dort angekommen stellte er einige Blechdosen auf und ließ uns nacheinander darauf anlegen, zielen und abdrücken. Wir waren beeindruckt, wie treffsicher der Onkel die Ziele von der Holzbank schoss, auf der sie standen. Als ich lachte, wurde der Onkel ernst. Er nahm uns die Gewehre weg und ging zum Hof zurück.  

 

Kurz darauf musste der ältere Sohn in den Krieg.

 

Der Krieg ist eine hässliche Sache, sagte die Tante. Er nimmt den Müttern die Söhne und Männer. Der Onkel sagte nichts. Der Sohn sagte, das Sausen von Kanonen klänge wie Schwalben, die nah am Ohr vorbeipfiffen. Der Onkel schlug mit der Faust auf den Tisch. Danach sagte niemand mehr etwas.

 

Dann kamen die Soldaten. Erst wenige, die Schutz und Zuflucht suchten, dann immer mehr, jeden Tag. Langsam wurde uns klar, der Krieg war ganz in der Nähe. Aber vielleicht würde er uns übersehen, vielleicht würde er an unserem Hof vorbeiziehen, wie die dunklen Wolken, die an manchen Abenden tief über den Weizenfeldern hingen. In dieser Zeit träumte ich oft von unserem Hof, einem Hof, dessen Türen nicht abschließbar waren. Und immer, wenn ich im Traum aufstand, um sie zu schließen, stand schon ein fremder, bärtiger Mann davor. Sein Gesicht lag im Schatten. Und egal, was ich auch tat, die Türen standen immer wieder offen. [...]

 

Elefanten, die auf zwei Beinen stehen

 

 

 

Miriam wusste nichts vom Austreten der Knorpelmasse, von Wirbeln und der Flüssigkeit in den Bandscheiben. Sie kannte nur das tägliche Training und das Leuchten in den Augen der Mutter, wenn sie ihre Fortschritte zeigte.

Sie wusste nichts von den engen Gelenkpfannen, die ein dumpfes Knacken von sich gaben, wenn sich der Oberschenkelkopf ein wenig zu weit über die kraterförmige Erhebung des Beckens hinausstreckte und Knochen an Knochen rieb. Sie spürte nur die Nähe des Vaters, der auf ihrem Rücken saß, um ihren Oberkörper zwischen die gespreizten Beine zu zwingen. Der Vater, dessen Muskulatur vom Trinken und Sitzen zu schwach war, um das eigene Gewicht zu halten. Derselbe Vater, dessen aufgeschwemmter Bauch regelmäßig den Kinderkörper unter sich begrub. In diesen Momenten ging ein kurzes Zittern durch Miriams Muskeln, die unter der Masse verkrampften bis es still wurde und sie nichts mehr spürte als die Nähe des Vaters. Abgesehen davon ging ihr das Frontbending gut von der Hand, beim Backbending aber mussten Gewichte und Seile zum Einsatz kommen, die der Vater am Wohnzimmertisch befestigte, um sie in die gewünschte Position zu zerren.                                                                  

Miriam wusste nichts von Kontorsion. Sie spürte nur den kalten Steinboden unter ihren nackten Fußsohlen. Sie kannte nur den engen, goldenen Body, der alle Konturen nachfuhr und auch die in letzter Zeit anschwellenden Brüste nicht ausließ. Die Mutter sagte, dass das kein Problem sei. Dafür gäbe es ja Klebeband.

Ab diesem Abend überzog die Mutter den Oberkörper mit einer festen Klebebandschicht, die alles zu einem Jungenkörper zusammendrückte und beim Abreißen wunde Stellen an den Brustwarzen zurückließ. Miriam spürte nur die Umarmung der Mutter nach den Übungen.

Miriam wusste nichts vom Rag-Doll-Akt oder dem Golliwog, sie spürte nur die groben Arme der Männer, die sie als lebensgroße, schlaffe Puppe schüttelten und verbogen, um sie am Ende in eine kleine Kiste zu stopfen. Miriam dachte nur an die Augen der Mutter, wenn sie lächelnd unter Aufbietung aller Kräfte aus dem quadratischen Gefängnis herausstieg.

Miriam wusste nichts über die Marinelli-Beuge. Sie schmeckte nur den Schweiß ihrer eigenen Hände am Mundstück, das aufgekaute Plastik und erkannte die Bissrillen der Zähne. Der Vater sagte, ihr Drehmoment reiche noch nicht aus.

Nach der Schule zog Miriam wie jeden Tag mit einem Schwung ihr linkes Bein auf den Heizkörper im Bad und hob dann das andere ins Waschbecken. Obwohl sie Angst hatte, dass es sie in der Mitte in zwei Teile zerreißen würde, ließ sie die Hüfte tief sinken, bis ihre Beine einen halbrunden Bogen ergaben, vergleichbar einem Schlappseil, das Artisten im Zirkus benutzen.

Erst als alles taub war, wechselte sie die Beine und begann die Dehnung erneut. Wenn der Vater von der Arbeit käme, müssten ihre Muskeln warm und ihre Sehnen gestreckt sein.

Der kleine Bruder spielte in Miriams Zimmer. Die Mutter kochte unterdessen Putenfleisch in der Küche. Nach dem ersten Beinwechsel ging Miriam zum Kühlschrank, um etwas zu trinken, aber die Blicke der Mutter ließen ihr nicht genug Zeit, um zu verschnaufen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich noch, als sie zurück ins Bad trat. Sie spürte das Ziehen in den Oberschenkeln, den Waden, vom Bereich der Lendenwirbel bis in den Fußboden. Morgen würde es wehtun. Aber Miriam dachte nicht an das Brennen und den Widerwillen in den Schmerz von gestern hineinzutrainieren. Sie dachte nur an die Mutter und ihr Lächeln.  

Irgendjemand musste sich im Waschbecken die Hände gewaschen haben. Beim zweiten Durchgang glitt Miriams Ferse am Keramikrand ab und sie schlug mit dem Knie auf der Badewanne und mit dem Rest auf dem Fliesenboden auf. Miriam schrie. Aus der Küche hörte man nur das Bruzzeln des Öls in der Pfanne.

Als der Vater nachhause kam, saß Miriam mit einer azurblauen Kühlpackung auf dem Sofa und sah fern. Abwechslungsweise hob sie sich das gallertartige Packet an Knie, Steißbein und Hüftknochen. Im Fernsehen liefen freie Elefanten von Wasserloch zu Wasserloch. Der Himmel leuchtete azurblau.

Der Vater sah sie lange an. Die Mutter schob ihren Kopf hinter den breiten Schultern des Vaters hervor. Sie musste auf ihre Zehenspitzen steigen.

Der Vater fragte, was geschehen sei. Die Mutter antwortete. Der Vater meinte, dass der Talentwettbewerb nicht mehr weit sei. Die Mutter nickte.

Miriam sagte nichts. Sie sah nur die Elefanten in der Savanne. Graue Riesen, die trompeten und ihre Köpfe zueinander bewegen.

Der Vater fragte, ob es schlimm sei und ob man morgen wieder trainieren könne. Die Mutter nickte. Es würde schon gehen.

Die Elefantenkinder turnten zwischen den Erwachsenen herum.

Der Vater sagte, dass die Reise, das Hotel und die Startgebühr sehr viel gekostet hätten, mehr als sie sich eigentlich hätten leisten können. Die Mutter nickte. Es wäre eine einmalige Chance. Die einzige im Leben.   

Die Elefanten trotteten langsam weiter, rupften mit ihren Rüsseln die Blätter aus den satten Baumkronen und bewarfen sich mit Dreck und Wasser. Für einen Moment glaubte Miriam, ein Lächeln zwischen den hellen Stoßzähnen des kleinsten Elefanten zu erkennen. Aber sie wusste aus der Schule, Elefanten können nicht lachen. Das können nur Menschen.

Der Vater sagte, dass es besser wäre, wenn man Miriam heute freigebe, sie solle sich ausruhen, um morgen wieder fit zu sein. Die Mutter nickte und ging zurück in die Küche. Miriam sah nicht auf, sie sah nur die Elefanten.